Maxa Yoawi: Die Wasser von unten stiegen auf und im freien Fall vereinten sie sich in Liebe mit jenen von oben (2016)

Hat er es schließlich geschafft in Liberia zu bleiben oder konnte er sein Leben in Kamerun retten? Ich betrachte eine schwarzweiß Fotografie von Quane Didobe am Bahnhof Hallesches Tor. Quane, so hieß er, bevor ihn die Missionare auf den Namen Martin Didobe getauft haben. Auf dem Foto ist er aufrecht, voller Knöpfe, seinen Zug der ersten Klasse flankierend -mit dem er immer zum Zoologischen Garten fuhr- abgebildet. Ich schaue auf mein Handy und sehe die SMS von Elke aus dem Moore: Lass uns um 8 Uhr am Halleschen Tor treffen, einen Kaffee trinken und über den Obsidian sprechen. Es ist Samstag, in der Nacht hatte es durchgeregnet und der Tag beginnt mit einem wunderschönen Morgen. Wir treffen uns am Bahnhof und gehen gemeinsam Richtung Mehringdamm, die Kreuzung Stresemannstraße Ecke Niederkirchnerstraße hinter uns lassend. Dort wurde das Königlich Preußische Archiv, welches ehemals die ethnologischen Sammlungen beherbergte, 1945 von einer Bombe getroffen. Wir suchen nach einem Café wo wir frühstücken können, aber noch haben alle geschlossen. Schließlich finden wir einen bereits offenen Bioladen, in welchem wir Brötchen und Kaffee bekommen. Wir setzen uns an die Fensterfront, die Sonne scheint auf unseren Tisch.

Ich erzähle Elke, dass die Motive der im Heidelberger Kunstverein gezeigten Fotos, von den Mitgliedern der Wixarika Gemeinde ausgewählt worden sind. Mit den Einnahmen aus dem Verkauf der Fotos möchten die Gemeinde und ich eine Art tragbares Archiv bauen. Darin sollen die Fotografien der vergangenen drei Jahre aufbewahrt werden, welche die Gemeindemitglieder 1928 mit einer Москва (Kamera)geschossen haben. Auch die Dokumentation der Zeremonien in der Wüste Wixikuta und auf dem Berg El Quemado, sowie die Aufzeichnungen des Besuches von Xaureme und Dionisio im ethnologischen Museum Berlin Dahlem (2005) sollen in dem tragbaren Archiv einen Platz finden. Das Filmmaterial von 2005 müsste noch einmal überarbeitet werden, da Informationen fehlen, vor allem dann, wenn die von Dionisio beschriebenen Objekte im Film nicht zu sehen sind. Die Qualität der damaligen Aufnahmen war nicht sehr gut, was es besonders den Weberinnen erschwert, die Knoten und Stiche der Muster auf den Textilien zu zählen, um sie nachzuarbeiten. Viele der Muster auf den zeremoniellen Objekten, die sich in der Sammlung von Dahlem befinden, sind in der Sierra Madre nicht mehr vorhanden. Jedes Muster auf den Wixarika Objekten entspricht einer Zeremonie. So findet man in Dahlem das Muster eines königlichen Spechts, der heute ausgestorben ist. Innerhalb der Gemeinde kamen deswegen mehrere Fragen auf: Wie lief die Zeremonie damals ab? Würde die Zeremonie heute wieder genauso abgehalten, oder wie könnte eine vergleichbare Zeremonie heute aussehen? Aus all diesen Fragen und Ansätzen ergab sich ein neuer Dialog, der mit den Mara‘akate geführt wurde.

In den vergangenen fünfzehn Jahren errichtete der mexikanische Staat drei Schulen in dem Gebiet der Wixarikas. Die damit einsetzende Alphabetisierung hat die Mitglieder der Gemeinde voneinander entfernt. Mit dem tragbaren Archiv möchten wir den Dialog zwischen den Generationen wieder fördern und stärken. Wir möchten im Rahmen der gemeinsamen Arbeit herausfinden, welche AutorInnen wichtig für die Gemeinde sind um ihre Texte dann ins Wixarika zu übersetzen. Im Fokus stehen vor allem die Arbeiten von kritischen indigenen DenkerInnen und FeministInnen of Color. Ein anderes Vorhaben, welches durch den Verkauf des Obsidians finanziert werden wird, ist die Erstellung eines kleinen Heftes. In dem Heft werden 83 Fotos von Opfergaben aus der Sammlung des ethnologischen Museums Dahlem abgebildet sein. Jedes Opfergaben wird zweimal abgebildet, einmal in Farbe auf der Vorderseite und einmal aus leicht veränderter Perspektive auf der Rückseite in schwarz-weiß. Die Wirrarika baten mich darum, dass die einzelnen Seiten des Buches leicht herauszulösen sein sollten, um die Bilder während einer Zeremonie oder an einem zeremoniellen Ort einzutauschen, einzugraben oder verbrennen zu können.
Sobald ich in Mexiko angekommen war, begab ich mich in das Gebirge “Sierra El Astillero”, den Erlös aus der Dauerleihgabe des Obsidian bei mir tragend um voller Vorfreude endlich mit der Erstellung des tragbaren Archivs beginnen zu können. Mit dem Geld sollten die Druckkosten der Fotos in Heidelberg beglichen werden und das was davon übrigblieb, sollte als Startguthaben für den Bau des Archivs genutzt werden. Zu meiner großen Überraschung wollte die Gemeinde plötzlich ein anderes Projekt wieder aufgreifen, welches aufgrund von Problemen ins Stocken geraten war und einen Konflikt in der Gemeinde ausgelöst hatte.

Das Ziel des Projektes war der Bau eines Hirschgeheges in Cipres. Die Gemeinde erwarb 2011 fünfzehn Hirsche, die sich aber noch an einem anderen Ort der Sierra befanden. Es wurde eine gewisse Geldsumme eingeplant um die Hirsche in der Nähe der Gemeinde einzuhegen. Bislang konnte das Vorhaben nicht beendet werden, da sich die Verantwortlichen mit den Geldern aus dem Staub gemacht haben. Die Wixarika Gemeinde hatte bereits mit der Wiederaufnahme des Projektes begonnen und einen jungen Wixarika, Totupica, als Verantwortlichen ausgewählt. Totupica studierte an der Universidad Autónoma de México (UNAM) Veterinärmedizin und ergänzt sein wissenschaftliches Wissen mit dem uralten Wissen der Wixarikas. Vor ein paar Jahren lernte ich Totupica durch die Coamil (gemeinnützige Arbeit) kennen. Ich fragte ihn ob es möglich wäre, mich an dem Projekt zum Bau des Hirschgeheges zu beteiligen. Er hielt es für eine gute Idee. Das Vorhaben wurde ursprünglich von Xaureme² initialisiert, welcher uns nach wie vor mit Rat und Tat zur Seite stand. Zunächst begannen wir mit einer Bestandsaufnahme des Geländes und verschafften uns einen Überblick darüber, was für den Transport der Tiere notwendig wäre. Erst einmal mussten wir die Zustimmung der Hirsche für ihren Transport einholen und mit Don Chito sprechen. Er ist Mitglied der Nayaritgemeinde und hat die Hirsche in den vergangenen 5 Jahren versorgt. Er rechnete uns vor, was ihn die Hirsche an Futter und Versorgung in diesem Zeitraum gekostet haben. Die Hirschpopulation war von fünfzehn auf 53 gestiegen und davon gehörten zwanzig uns. Die Hirsche sollten im Oktober zu uns transportiert werden und nach drei Jahren, nach einem weiteren Anstieg der Population, in die freie Wildbahn entlassen werden. Durch die Freilassung der Hirsche wird das gesamte Ökosystem gestärkt, da Wölfe, Pumas und Jaguare in dem Gebiet der Sierra El Astillero vom Aussterben bedroht sind.

Totupica und ich machten uns also auf zu den Hirschen. Wir kamen am späten Nachmittag an, warfen einen ersten Blick auf die Tiere und legten uns schlafen. Die Bäume waren von einer überwältigenden Größe. Die auf dem Bergkamm herausragenden Felsen waren das einzige, worauf der Wald die Sicht freigab. Am nächsten Tag sagte ich zu Don Chito, dass ich da gerne hochgehen würde. Er antwortete mir, dass ich dort vermutlich nur als Skelett ankommen werde, da das Gebiet voller Jaguare ist. Beim Abendbrot am Feuer erzählte er uns viele Geschichten über die verschiedenen Arten von Schlangen und Klapperschlangen, die es in dem Wald gibt. Wir legten uns schlafen. Im Morgengrauen stand ich auf, um aufs Klo zu gehen. Beim Öffnen der Tür unserer Hütte begriff ich, dass der Wald eine Armlänge von mir entfernt begann. Ich konnte absolut nichts erkennen und kroch unter meine Decke zurück, an die Vielzahl der Jaguare und Wölfe denkend. Auch Totupica erwachte und öffnete die Tür. Er blieb ebenfalls, überwältigt vom Anblick des Waldes, lange in der Türe stehen.
Am nächsten Morgen sah ich den Wald so voll und dicht und die Berge um uns herum so hoch, dass vor halb elf kein Lichtstrahl unsere Hütte traf. Wir blieben zwei weitere wundervolle Tage an diesem Ort. Tagsüber besuchten wir die Hirsche, planten ihren Transport, berechneten die dafür notwendigen Mittel und besprachen die Vorkehrungen, die dafür noch getroffen werden mussten. Des Nachts dachte ich immer wieder an die Wölfe und Jaguare, die diesen Wald bewohnten.

Dank des Erlöses aus der Dauerleihgabe des Obsidians sind wir für den Transport der Hirsche im Oktober gut vorbereitet. Dennoch werden wir auf den Schutz und den Halt des Rates der Weisen angewiesen sein.

Gabriel Rossell Santillán
Übersetzung: Marie Strauss

 

Gabriel RosseIl Santillán
Maxa Yoawi: Die Wasser von unten stiegen auf und im freien Fall vereinten sie sich in Liebe mit jenen von oben
2016
Digitales Video mit Ton
11:51 Min.
Courtesy Gabriel RosseIl Santillán