Die Veröffentlichung eines Forschungsbeitrags, demzufolge die Gensequenz von Kopffüßern (Kraken, Tintenfische und Kalmare) eine auffällige Ausprägung von Genen enthält, die sonst nur bei höheren Wirbeltieren auftreten, sorgte kürzlich für Wirbel in der wissenschaftlichen Community. Durch die isolierte Ausformung dieser Gene, verfügen Kopffüßer über knapp 33.000 mehr Proteincodierungsanweisungen als Menschen. Die Forscher fanden keine evolutionäre Erklärung für diese extreme genetische Komplexität und schlossen ihre Ausführungen daher mit dem nicht ganz ernst gemeinten Fazit, es müsse sich bei Kopffüßern um Aliens handeln. Leserschaft und Öffentlichkeit nahmen diese metaphorische Aussage wörtlich: Oktopusse sind fremdartige Wesen aus einer anderen Welt! Das amüsante Mißverständnis führte zu einem pokulturellen Hype. Doch auch wenn Kopffüßer aller Wahrscheinlichkeit nach keine Aliens sind – wäre es nicht ungemein interessant, sich die Welt vorzustellen, aus der sie bzw. ihre genetische Ausstattung stammten?

Das Sprachmedium der Kopffüßer ist Öl, in dem Botschaften aufgelöst sind. Die bekannte „Tinte“, die diese Tiere ausstoßen und die bisher als chemisches Alarmsignal galt, das vor nahenden Feinden warnen soll, ist in Wirklichkeit eine Wolke aus codierten Sprachbotschaften. So weit, so unspektakulär. Natürlich nutzen Oktopusse Tinte, um mit ihren Artgenossen zu kommunizieren. Doch das bedeutet auch, dass man sich die Oberfläche eines Planeten, auf dem diese Wesen die vorherrschende Lebensform sind, als tintige, ölige und trübe Wolke vorstellen kann. Andere, bisher unbekannte Spezies müssten sich an diese Umgebung anpassen und sich darin weiterentwickeln. Wo unsere Welt windig und feucht scheint, wäre ihre glitschig und träge. Die Signaldichte innerhalb dieser glitschigen „Wolke“, übertragen durch Steroide – bestimmte, übertragbare Codes und Befehle in Form von löslichen Fetten, auch bekannt als Hormone – entspräche der eines elektromagnetischen Sturms aus sämtlichen Radio- und Fernsehübertragungen des vergangenen Jahrhunderts. Es wäre eine Welt der ölgebundenen Daten-Clouds, in der Informationen nicht immateriell codiert wären, sondern als dreidimensionale, zähflüssige Materie existierten.

Damit kommen wir zur zweiten und nicht minder faszinierenden Beobachtung: Kopffüßer sind nicht nur in der Lage, diese Hormonwolken zu verstehen, wie Menschen einen Satz in ihrer Sprache verstehen. Die soziale Funktion ihrer linguistischen Nervenbahnen ist außerdem direkt mit den Genen verbunden, die für die Erzeugung von Geruchsstoffen zuständig sind. Dies legt den Schluss nahe, dass Kopffüßer auf ihre stoffliche Sprache antworten, in dem sie einen Duft verströmen. Bei höheren, intelligenten Lebensformen dient Sprache über die Kommunikation von Sachverhalten hinaus als gesellschaftliches Produktionsmittel, das interpretiert, neu interpretiert und zur Ausgangsbasis von etwas anderem werden kann, beispielsweise einem Gesetz, Kunstwerk, Gebäude oder einer Mahlzeit. Diese nicht- oder vielleicht eher post-sprachlichen Faktoren gilt es zu beachten, wenn man sich einen Planeten der Kopffüßer vorzustellen versucht. Oktopusse nutzen also Duftstoffe als Bau-, Gestaltungs- und Handlungsmedium. Mit ihrer hochentwickelten Fähigkeit, Duftstoffe zu erzeugen und auszubilden, erschaffen sie „Erfahrungsräume“ – ein Konzept, das in etwa mit der menschlichen Architektur vergleichbar ist. Im tentakelartigen Kopffüßer-Universum aus ölig-tintigen Flüssigbotschaften, gleitenden Fangarmen, wechselfarbiger Haut und flüchtigem Formwandeln ist es nur logisch, dass diese Räume oder Gebäude ebenfalls veränderlich und beweglich sind. Und was entspräche dem Oktopus-Charakter mehr, als Kunst, Städte und eine ganze Welt aus Duft, einem vergänglichen Hauch von Geruch zu erschaffen? Schließlich ist der Geruchssinn, der uns Menschen abstrakt, weil scheinbar materielos erscheint, doch untrennbar mit Gedächtnis und Sprache verbunden und wesentlich am Wachrufen von Raum- und Sinneserinnerungen beteiligt. Die Kopffüßer in ihrer Fremdartigkeit haben genau das verstanden.

Auszug aus „Octopus Oracle“, Ashkan Sephavand über Sarah Ancelle Schönfelds „Alien Linguistic Lab“, übersetzt von Julia Ritter